#24: Midimalismus – Haben oder Sein?

Maximalismus

Ich wage zu behaupten, dass es Menschen gibt, die eine Lebensform verfolgen, die man als Maximalismus bezeichnen könnte. Maximalismus bedeutet für mich das Streben nach (immer mehr) Besitz. In Hamsterkäufen und regelmäßigen Shoppingtrips, die allein um des Shoppens Willen stattfinden, zeigt sich das mehr oder weniger unhinterfragte Konsumieren. Menschen, die einer maximalistischen Lebensweise nachgehen, definieren sich über das Haben anstatt über das Sein. Sie müssen immer das Neuste (Iphone), das Teuerste (Auto) oder das Beste (Fünf-Sterne-Hotel) haben. Wenn das nicht erschwinglich ist, kompensieren sie es durch Masse, Quantität statt Qualität. Nie getragene Kleidungsstücke, an denen noch das Etikett hängt, seit Jahren originalverpackte Bücher, so viele verschiedene Nagellacksorten, dass kein einzelner Mensch sie in seiner Lebensspanne aufbrauchen kann, 25 Handtaschen, von denen 20 nie benutzt werden, eine ganze Batterie an Putzmitteln usw. Die einen versuchen durch das, was sie besitzen, ihren Status auszudrücken, die anderen klammern sich an ihre Habe in der Hoffnung, in ihr eine Art Sicherheit zu finden. Maximalist*innen erfreuen sich an der Anwesenheit der Dinge.

 

TOO MUCH!

Sieben Uhr, der Wecker klingelt. Wir stehen auf, bahnen uns unseren Weg durch auf dem Boden liegende Kleidungsstücke hin zum Kleiderschrank. Obwohl wir zirka 365 Kleidungsstücke besitzen, finden wir es jeden Tag aufs Neue schwierig, etwas Passendes zum Anziehen zu finden. Wir wollen frühstücken, doch der Esstisch muss erst freigeräumt werden. Das vage Gefühl, dass sich ganz hinten im Kühlschrank Dosen mit längst ungenießbarem Inhalt befinden, drängen wir gekonnt beiseite. Um unsere Sachen für die Arbeit zusammenzusuchen, müssen wir vorher einen Kubikmeter Papierkram von A nach B verschieben. Draußen regnet es, aber wo war noch gleich der Regenschirm? Wir können ihn auf die Schnelle nicht finden, beim Suchen fallen aber mehrere andere Dinge zu Boden. In die Abstellkammer gucken wir gar nicht erst, weil uns allein der Gedanke daran in helle Panik versetzt. Wir wissen, dass wir eigentlich dringend mal aufräumen müssten, schieben es aber ewig vor uns her. Irgendwie ist gerade einfach alles zu viel.

Es ist nicht übertrieben zu behaupten, dass wir in einer Zeit des Überflusses und des Überkonsums leben. Zu viele Auswahlmöglichkeiten im Supermarkt, auf der Speisekarte, für den Lebenslauf. Zu viele Bücher fürs Regal, zu viele Jacken an der Garderobe, zu viele Schuhe im Flur. Zu viele neue Posts, zu viele E-Mails, zu viele WhatsApp-Nachrichten. Für viele Menschen wird der oben beschriebene Maximalismus, den wir oft einfach so vorgelebt bekommen und nie hinterfragt haben, immer häufiger zum spürbaren Problem. Das allgemein herrschende Zuviel, das nicht nur unseren Alltag prägt (vor allem, wenn wir in einer größeren Stadt leben), sondern sich auch in unseren eigenen vier Wänden bemerkbar macht, kann extremen Stress auslösen und den Wunsch nach Entschlackung mit sich bringen.

 

Minimalismus

Der Begriff Minimalismus ist seit ein paar Jahren in aller Munde. Es handelt sich dabei um eine Lebensform, bei der der bewusste Verzicht – auf Dinge, aber auch auf andere Arten von Ablenkung – Raum schafft für das Wesentliche. Beim Anblick überquellender Schubladen oder eines Kleiderschrankes, der aus allen Nähten platzt, fällt die Vorstellung nicht schwer, dass ein Weniger vielleicht doch auch ein Mehr bedeuten kann.

Wir kennen die extremen Beispiele von Minimalist*innen, die nur einen Stuhl behalten (oder ganz auf dem Boden sitzen), ihre eine Tasse und ihren einen Teller nach jedem Essen direkt abwaschen und sich von jeglicher Dekoration oder Gemütlichkeit verabschiedet haben. Solch minimalistische Wohnräume können schnell kalt wirken. Oft ist es doch das Ensemble der Gegenstände in unserem Zuhause, das eine Geschichte erzählt und eine warme Stimmung kreiert, die zum Verweilen (mit Freund*innen) einlädt. Auch wenn es nicht in jedem Fall so extrem aussehen muss, geht es bei der minimalistischen Herangehensweise doch darum, die Besitztümer zahlenmäßig zu reduzieren. Die Regeln, dass man nur 100 Dinge behalten darf oder man immer einen Gegenstand aussortieren muss, sobald ein neuer dazukommt, sind numerische Ansätze. Letztendlich steht hier wieder das Haben im Mittelpunkt, relevant ist, wie viel man hat oder eben nicht hat. Minimalist*innen erfreuen sich an der Abwesenheit der Dinge.

 

Midimalismus

Ein streng minimalistischer Lebensstil ist für viele von uns nicht wirklich erstrebenswert oder gar nicht durchführbar. Außerdem sind, wie wir oben gelernt haben – sowohl Maximalismus als auch Minimalismus eine Form der Abhängigkeit von den eigenen Besitztümern. Haben oder Nichthaben – das ist bei beiden Lebensweisen die zentrale Frage.

Für mich ist eine DaSEINSform erstrebenswerter, die sich auf das konzentriert, was ich BIN und nicht das, was ich HABE. Klingt zu theoretisch? Ich optiere für einen gesunden MIDImalismus. Wie führt man ein midimalistisches Leben? Indem man zuerst einmal seinen Hausstand aufräumt, am besten nach der KonMari® Methode. Ja, kein Scherz! KonMari® legt den Fokus nämlich nicht auf irgendeine willkürliche Anzahl oder überhaupt auf das Reduzieren von Dingen, sondern auf dein Gefühl. Beim Aufräumen nach der KonMari® Methode gehst du an deinen gesamten Besitz mit einem Liebesfilter heran, dein persönliches Glücksempfinden als Kompass. Indem du dir die berühmte Frage stellst („Does it spark joy?“) kommst du wieder ins Fühlen, schaltest den Verstand aus. Wenn du einen Gegenstand in die Hand nimmst, vielleicht sogar die Augen schließt, dessen Material in den Händen spürst, vielleicht sogar seinen Geruch aufnimmst, kommst du in Kontakt mit der Energie eines Gegenstandes. Du erspürst mit allen Sinnen, ob dir die Sache etwas bedeutet. Marie Kondo sagt, wenn dich ein Gegenstand glücklich macht, fühlt sich das wie kleine Schmetterlinge im Bauch an. Wenn du dich auf diese Weise deinem Besitz annäherst, tust du es in einer Form des Seins. Das Haben steht nicht mehr im Vordergrund. Midimalist*innen erfreuen sich an dem Gefühl, das die Dinge um sie herum in ihnen auslösen.  

Ich würde mich selbst als Midimalistin bezeichnen. Ich habe nicht nichts aber ich habe auch nicht zu viel. Natürlich ist das für jeden Menschen total individuell. Als Inspiration kommen hier aber mal ein paar Beispiele für meinen ganz persönlichen Midimalismus.

Was ich nicht und was ich anstelle dessen habe:

  • Bügelbrett & Bügeleisen. Dafür Klamotten, die nicht leicht knittern.

  • Putzmittel. Dafür Essigreiniger.

  • Frischhaltefolie. Dafür Bienenwachstücher.

  • Einen Mülleimer im Badezimmer. Dafür einen in der Küche.

  • Einen Pizzaroller. Dafür scharfe Messer.

  • Teure Aufbewahrungssysteme. Dafür Körbe und Kisten vom Flohmarkt.

 Was ich niemals reduzieren möchte:

  • Kerzen.

  • Hübsches Geschirr und Geschirrtücher.

  • Pflanzen.

Das war’s für heute von mir. Wie sieht’s bei dir aus? Auf welche Dinge könntest du niemals verzichten und was lässt du bereitwillig los? Ich bin gespannt, von dir zu hören!

P.S.: Zur Unterscheidung von Haben oder Sein kann ich dir das gleichnamige Buch von Erich Fromm, einen echten Klassiker, nur wärmsten ans Herz legen.

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