#57: Vom Anonymen Aufräummuffel zur versierten Inneneinrichterin – Eine Wegbeschreibung
Wer hätte das Gedacht? Sogar beim Lesen von Essays kann man das Aufräumen lernen! In letzter Zeit habe ich die autobiographischen Texte von Daniel Schreiber kennen und schätzen gelernt. In Nüchtern, Zuhause und Allein nähert er sich dem jeweiligen Thema an, indem er jeweils seine eigenen Erfahrungen sowie philosophische Ansätze und wissenschaftliche Erkenntnisse miteinander kombiniert. Ich habe die Bücher gerne gelesen, da sie gleichzeitig kurzweilig und tiefgründig sind und Daniel Schreiber meiner Meinung nach eine Person mit sehr guter Beobachtungsgabe ist, die kein Blatt vor den Mund nimmt, wie man so schön sagt. Nicht nur wenn dich eins der Themen im Besonderen interessiert, solltest du die Lektüre in Erwägung ziehen, sondern auch, wenn du übers Leben allgemein etwas lernen möchtest. Fünf Learnings bekommst du heute schonmal von mir zusammengefasst. Sie beziehen sich aufs Thema Aufräumen im weitesten Sinne – und damit immer auch aufs Leben. 😉
Gewohnheitsloop
In Nüchtern setzt sich der 1977 geborene und in Berlin lebende Schriftsteller und Journalist Daniel Schreiber mit seiner trinkfesten Vergangenheit auseinander. Als er erkennt, dass er ein ernsthaftes Alkoholproblem hat, dauert es noch eine Weile, doch schließlich führt sein Weg ihn zu einem Treffen der Anonymen Alkoholiker. Der Beginn seines nüchternen Lebens, eines Lebens, das viel klarer ist als das, was er vorher gelebt hat. Nüchtern ist empfehlenswert für alle, auch für die, die selten oder nie „einen über den Durst trinken“. Es liefert einen unverblümten Blick auf die Zustände in unserer Gesellschaft und gibt wertvolle Erkenntnisse weit über den Bereich des Alkoholkonsums hinaus.
Ich will Unordentlich- und Abhängigkeit keinesfalls gleichsetzen. Ich möchte lediglich ein kleines Experiment vorschlagen: Wenn es dir bis dato schwerfiel, Ordnung zu schaffen, könnte man dich als eine Art Anonymen Aufräummuffel bezeichnen, oder? Bei beidem – sowohl dem exzessiven Trinken als auch dem exzessiven Dingeherumliegenlassen – sind die schlechten Angewohnheiten der Kern des Problems. Etwas, das sich über viele Wiederholungen so in unser Gehirn eingeprägt hat, dass es nahezu automatisch abläuft. Schreiber erwähnt in diesem Zusammenhang die Forschung von Charles Duhigg, der darlegt, dass schlechte Gewohnheiten vom Gehirn nicht „gelöscht“ werden können: „Auf biochemischer und zellulärer Ebene bleiben sie ein Leben lang bestehen.“ Die schlechte Nachricht lautet also: Alte Gewohnheiten können nicht komplett abgelegt werden. Aber es gibt auch eine gute Nachricht. Sie lautet: Alte Gewohnheiten können überschrieben werden, indem man sie durch neue, bessere ersetzt. Um das zu erreichen, muss man sich laut Duhigg eine Ersatzgewohnheit suchen, die den Platz der alten Gewohnheit einnimmt. Wichtig ist, dass die neue Routine dabei den alten „Gewohnheitsloop“ beibehält. Der Gewohnheitsloop ist die Verbindung zwischen dem Reiz, der eine Gewohnheit auslöst, und dem Gewinn, den sie verspricht. Ganz ähnlich formuliert es James Clear in Atomic Habits. (Darüber habe ich bereits zwei Blogbeiträge verfasst: „Die vier besten Tipps, um schlechte Angewohnheiten abzulegen“ und „Die vier besten Tipps, um gute Gewohnheiten zu etablieren + Buchtipp“.) Clear nennt seinen Ansatz auch die 1%-Methode. Weil es darum geht, jeden Tag etwas ein bisschen zu verändern. Dazu passt ein Zitat von einem mir unbekannten John C. Maxwell, das ich ziemlich ermutigend finde: „Du wirst dein Leben nie verändern, bis du etwas veränderst, das du täglich tust. Das Geheimnis deines Erfolgs liegt in deiner täglichen Routine.“
Just for today
Natürlich geht es in Nüchtern nicht um den Prozess des Aufräumens. Wobei, eigentlich schon. Es geht darum, wie ein Mensch aufgrund seines schädigenden Trinkverhaltens beschließt, clean zu werden, zu Treffen der Anonymen Alkoholiker geht und daraufhin sein Leben umkrempelt. Im Prinzip räumt Daniel Schreiber dabei mit allem möglichen auf: Negativen Glaubenssätzen, gesellschaftlichem Druck, dem Gefühl, Erwartungen anderer nicht gerecht zu werden, Ausreden, Ängsten. Was ihm dabei geholfen hat, sagt er, sei ein bekannter Slogan der AA-Selbsthilfegruppen: Just for today. Auch wenn ich Unordnung – bitte versteh mich hier nicht falsch – auf keinen Fall pathologisieren oder gleichsetzen will mit einer Form der Abhängigkeit, könnte ich mir dennoch vorstellen, dass dir dieser Slogan eine Hilfe ist. Denn er funktioniert! Wenn du dir nicht vorstellen kannst, dein Leben lang ordentlich zu sein, wirklich jeden Tag die einzelnen Dinge nach Benutzung an ihren Platz zurückzulegen oder bis an dein Lebensende nur noch für das Geld auszugeben, was du wirklich benötigst, wirst du kaum die nötige Motivation aufbringen können, um dies auch nur einen einzigen Tag durchzuhalten. „Nur für heute“ portioniert hingegen dein Vorhaben in viele kleine Häppchen und liefert dir einen überschaubaren Rahmen. Auch wenn dieser Rahmen nur einen Tag umfasst, ist es sehr wirkungsvoll, diesen einen Tag, diese 24 Stunden zunächst einmal durchzuhalten. Und dann weiterzusehen. Es ist machbar, und das motiviert. Das sind genau die 1%, von denen auch James Clear in Atomic Habits spricht. Babysteps. Und die schafft buchstäblich jedes Baby.
Realitätscheck vs. Eh-Mentalität
Beispiel stehengelassene Kaffeetasse im Wohnzimmer. Du machst dir in der Mittagspause eine Tasse Kaffee, fläzt dich aufs Sofa, schlürfst das wohlverdiente Getränk und – lässt anschließend die Tasse an Ort und Stelle stehen. Oder? Stopp! Jetzt ist der Augenblick gekommen für den Realitätscheck. Spiele durch, was passieren würde, wenn du die Tasse dort stehenlassen würdest.
Du kennst dich. Auch den Teller mit dem Brot, das du dir nachher schmierst, wirst du nicht sofort in die Küche bringen. Und die Papiere, die du noch bearbeiten musst? Ach, auf dem Boden liegen eh schon welche – da kommt es auf ein paar mehr oder weniger nicht an. Tassen und Papiere sind Rudeltiere. Genau wie Kugelschreiber, Knöpfe, Büroklammern, und dieser verfluchte Kleinkram im Allgemeinen. Und warum solltest du die Verpackung von deinen neuen Kopfhörern sofort wegräumen, wo du die Tasse, den Teller und die Papiere doch auch dagelassen hast? Du könntest es einfach entspannt SPÄTER machen. Macht doch nichts, wenn die Tasse erstmal noch hierbleibt…
Kannst du es sehen? Ein Ereignis löst eine ganze Kette von nachfolgenden Ereignissen aus, die in der Summe für das häusliche Chaos sorgen, welches du so gerne vermeiden möchtest. Das ist die Broken Windows-Theorie at its best. Falls du die noch nicht kennst: Sie besagt, dass, wenn eine Scheibe bereits eingeworfen wurde, die Wahrscheinlichkeit ungleich höher ist, dass der nächste Stein fliegen wird. Das ist die Eh-Mentalität. Hier ist eh alles hässlich, also schmiere ich noch zusätzlich Graffitis an die Wand. Hier liegt eh schon überall Müll, also kann ich auch noch ein kleines Papierchen dazu werfen. Hier steht eh schon dreckiges Geschirr herum, da macht die eine Tasse mehr auch keinen Unterschied. Es ist erwiesen, dass unaufgeräumte Räume dazu animieren, die Unordnung aufrechtzuerhalten. Ist ja eh alles egal.
Die Kaffeetasse ist also immer nur der Anfang. Daniel Schreiber sagt: „Man muss es schaffen, in solchen Momenten […] ehrlich mit sich zu sein.“ Und er hat recht. Meist geht es nur um diesen einen Moment, den Sekundenbruchteil, der darüber entscheidet, ob dein Zuhause in den nächsten Stunden und Tagen aufgeräumt und einladend bleibt oder sich in die ungewünschte Rumpelkammer des Grauens verwandelt. Die Vorstellung des (Schreckens-)Szenarios, das aller Wahrscheinlichkeit nach eintreten wird, wenn du die Tasse nun nicht zurückräumst, unterstützt die Wahrheitsfindung. Wenn du grundsätzlich weißt, dass es dir nicht leichtfällt, Ordnung zu halten, dann trickse deinen Kopf an dieser Stelle aus. Wenn es dir gelingt, hier den Fuß in die Tür zu bekommen, hast du es geschafft. Sei hier einmal klüger als du selbst und stell die verdammte Tasse weg. Jetzt! Der Realitätscheck ist der erste Schritt, danach kommt dein neuer Gewohnheitsloop und schon bist du dem ordentlichen Zuhause ein gutes Stück näher. Und es ist eben auch erwiesen, dass ein ordentliches Zuhause für mehr Wertschätzung sorgt und es uns dann leichter fällt, diese Ordnung auch beizubehalten.
Das eigene Interieur
In seiner autobiographischen Auseinandersetzung mit dem Thema Zuhause stellt Daniel Schreiber fest, dass möglicherweise auch der unaufgeräumte, provisorische Zustand seiner Wohnung ihn davon abhält, in Berlin wirklich Fuß zu fassen. Als er eines Tages Rollos anbringen und dafür die Bohrmaschine aus der Abstellkammer holen will, findet er alles Mögliche – eine alte Gästematratze, nie genutzte Rotweingläser und stapelweise Ausgaben des New Yorker – nur die Bohrmaschine, die findet er nicht. So trifft er den Entschluss, einmal gründlich aufzuräumen, und im Laufe dieses Prozesses nimmt er wahr: „Schon während ich die Wohnung überholte, verschob sich irgendetwas in mir, etwas, das zuerst unbedeutend wirkte, sich aber überraschend gut anfühlte. Ich hatte den Eindruck, ein klein wenig mehr anzukommen.“
Das, was der Autor hier erlebt, ist nicht weiter verwunderlich, ist die eigene Wohnung doch auch immer ein Spiegel unseres Innenlebens. Kein anderer Ort versammelt auf gleiche Weise die Essenz unseres Seins wie unser Zuhause. Oder, um es in Schreibers Worten zu sagen: „Nirgendwo sonst schlagen sich unsere Gewohnheiten und Rituale, unsere Sehnsüchte und Erinnerungen so geballt nieder.“ Oder, auch schön: Unsere Wohnräume „berichten von den Möglichkeiten und Grenzen unseres Selbst.“ Wie frei und unverstellt der Raum zwischen unseren vier Wänden, so frei auch der Raum in uns. Die äußeren entsprechen den inneren Grenzen. Unsere Wohnräume gleichen unseren Seelen und bestimmen, wer wir sind und wer wir sein werden. Umgekehrt bedeutet das also auch, dass wir in unseren Räumen Ausschau nach uns selbst halten können und uns dort mit hoher Wahrscheinlichkeit auch finden werden. Dementsprechend ist es äußerst sinnvoll, wenn wir uns ein paar Design-Skills aneignen und sozusagen zu unserer eigenen Inneneinrichterin werden (innen ist dabei ganz wörtlich gemeint). Lasst uns unser Interieur verschönern!
Daniel Schreiber berichtet in Zuhause von zahlreichen positiven Veränderungen, die das Aufräumen und Aufhübschen der eigenen Wohnung mit sich brachte: „In der Zeit, in der ich mich bewusst um meine Wohnung kümmerte, fand ich auch wieder verstärkt zurück zu den Dingen, die mir früher Halt geboten hatten […]. Ich war wieder zuverlässiger im Kontakt mit meinen Freunden […]. Ich machte häufiger Sport. […] Ich beschloss einen Französischkurs zu belegen […]. Und ich begann wieder zu kochen.“
Soziale Kontakte pflegen, sich sportlich betätigen, eine neue Sprache lernen, einem geliebten Hobby nachgehen: Ist es nicht toll zu hören, welch positiven Auswirkungen die Beschäftigung mit dem eigenen Zuhause auf das Leben haben kann? Und es geht noch viel größer: Zahlreiche Klient*innen von Marie Kondo berichten davon, zu wirklich lebensverändernden Entscheidungen bereit gewesen zu sein, nachdem sie ihr Haus nach der KonMari® Methode aufgeräumt haben. Ob Kündigung, Trennung oder, positiv ausgedrückt, beruflicher Neustart, Selbstverwirklichung, Raum für eine neue Beziehung – Aufräumen: This is where the magic happens!
Gut genug
Bereits in den 50er Jahren beschäftigte sich der Psychoanalytiker Donald W. Winnicott mit den Herausforderungen des Elternseins. Er erkannte, dass viele Eltern das Gefühl haben, den gesellschaftlichen oder auch ganz privaten Anforderungen, die an das Elternsein gestellt werden, nicht gerecht zu werden, nicht gerecht werden zu können. Wer kennt es nicht? Das Gefühl, nicht auszureichen, ungenügend zu sein. Winnicott entwickelte eine Lösung dafür. Er plädierte für das Konzept des „gut genug“. Das Motto: Du kannst als Mutter, als Vater, als Elternteil nicht immer zu hundert Prozent perfekt sein. Aber du bist gut genug! Und genauso ist es auch mit unserem Zuhause. Dass immer alles komplett überall jederzeit ganz und gar perfekt aufgeräumt ist, ist unrealistisch. Und außerdem: Was bringt es, wenn wir uns hier noch zusätzlich Druck machen? Genau: zusätzlichen Druck! Lasst uns ein für alle Mal den Perfektionismus verabschieden. Meinetwegen können wir ihm winken (Tschüss überzogene Erwartungen, byebye was sollen die anderen denken, ciao Blick nach außen), aber er muss jetzt wirklich mal gehen. Lasst uns stattdessen öfter diese fünf Wörter sagen: Meine Ordnung ist gut genug! Oder diese vier: Ich bin gut genug!