#64: Visual und Mental Load im Haushalt – Missstände benennen, Doppelbelastung minimieren
Sicherlich hast du schon von Mental Load gehört, denn dieser Begriff ist in aller Munde. Ich widme mich heute diesem Thema, weil es mich persönlich beschäftigt, aber auch, weil es etwas ist, worunter vor allem wir Frauen zu leiden haben und was Frauen in ihrem Alltag zusätzlich belastet. Als Kontrapunkt dazu gibt es dann noch den Visual Load, also die „sichtbare Belastung“, die durch Unordnung in unser Umgebung entsteht. Wie beides zusammenhängt und wie man beides im Alltag minimieren kann, um stressfreier zu leben, darum geht es heute.
Eine kleine Info vorab: Ich droppe heute ein paar (englische) Fachbegriffe, bitte sieh es mir nach und steig nicht sofort aus. Neue Worte sind wichtig, denn sie benennen Sachverhalte, die es bereits gibt, für die uns aber bis dato die Ausdruckmöglichkeiten fehlten. Wir müssen den Ist-Zustand adäquat benennen können, um Veränderung überhaupt in Gang zu setzen. Ich bin deshalb Fan von Wörtern, die uns nun zur Verfügung stehen, damit wir den Missständen endlich Widerstand leisten können. In diesem Sinne: Heißen wir den neuen Wortschatz willkommen!
Mental Load
Beginnen wir mit den Basics: Mental Load, was genau ist das eigentlich? Der Terminus kann als „mentale Belastung“ übersetzt werden und bezeichnet die Denkleistungen, die notwendig sind, um anfallende Aufgaben bewältigen zu können. Dazu gehört zum Beispiel das Erinnern, das Planen, das Wiederaufgreifen, das Verwerfen, sprich: Prozesse, die vor oder während der eigentlichen Aufgabe in unseren Köpfen ablaufen. Und damit sind wir auch schon bei einem großen Problem von Mental Load: Er ist in erster Linie unsichtbar. Dazu aber später mehr.
Um zu verdeutlichen, was ich unter dem Begriff Mental Load verstehe, möchte ich ein Beispiel anführen. Stelle dir die folgende Situation vor: Dein Kind will sich am Donnerstag mit einer Freundin verabreden. Folgende Vorüberlegungen sind nötig:
· Du gehst euren Familienkalender durch und checkst, ob das Kind Zeit hat. Du stellst fest: Um die Verabredung mit der Freundin wahrnehmen zu können, muss der Klavierunterricht verschoben werden.
· Du rufst die Klavierlehrerin an und vereinbarst einen Ersatztermin. (Dazu musst du den Kalender und weitere Termine im Blick haben.)
· Dein Kind möchte mit der Freundin und deren Familie Mittagessen und nicht in der Schule. Du rufst die Erziehungsberechtigten an und klärst, ob das Kind mitessen kann. Du bestellst online das Essen in der Mensa ab.
· Du gibst dem Kind Geld für ein Busticket mit, da es mit der Freundin Bus fahren wird.
· Du besprichst mit deinem Partner/deiner Partnerin, wer am Abend das Kind abholt. Du erinnerst daran, dass das Fahrrad des Kindes dann noch an der Schule steht.
· Ihr vereinbart, dass eine Person das Kind abends abholt und die andere es dafür am nächsten Tag zur Schule bringt, damit es von dort am Nachmittag mit dem Rad wieder zurückfahren kann.
You get the point, don’t you? Mental Load ist also die gedankliche Vor- oder Nebentätigkeit, die zur Bewältigung einer Aufgabe gehört. Anders als die Aufgabe an sich (in diesem Fall etwa das Abholen des Kindes von der Freundin) wird diese aber meist überhaupt nicht wahrgenommen – nicht von der nachdenkenden Person, und erst recht nicht von den Menschen in ihrem Umfeld. Wir sind derlei Alltagsorganisation gewöhnt und stufen häufig nur die eigentliche Aufgabe als Aufgabe ein, vergessen dabei aber die ganzen Schritte, die im Vorhinein nötig waren, um den reibungslosen Ablauf der Aktion zu gewährleisten. Wenn sich das Kind verabreden will, gehört eben nicht nur das Abholen zu den Voraussetzungen des Gelingens, sondern noch viele weitere Denkschritte, die im Verborgenen stattfinden (häufig aber den Großteil der Arbeit ausmachen).
Was kannst du tun?
Frage nach dem Warum. Ganz oft passiert es, dass wir Aufgaben quasi auf Autopilot, also unhinterfragt, erledigen. Vielleicht, weil wir es einfach schon eine geraume Zeit lang so gemacht haben oder weil wir denken, dass es (gesellschaftlich) von uns erwartet wird. Du willst eine Superparty zum ersten Geburtstag deiner Tochter ausrichten? Frage dich, warum eigentlich. Müssen die selbstgebackene Motivtorte und die selbstgebastelten Partyhütchen wirklich sein? Machst du das für deine Tochter oder vielleicht doch eher für dich? Die Lösung kann sein, dass du es trotzdem machst, das ist vollkommen okay, denn dann entscheidest du dich bewusst dafür. Oder dass du es lässt, weil dir klar wird, dass deiner Einjährigen egal ist, ob es selbstgebastelte Partyhütchen gibt. Patricia Cammarata, Autorin von Raus aus der Mental Load-Falle, schlägt vor, die KonMari®-Methode auch auf die eigene (mentale) To Do-Liste anzuwenden, nach dem Motto: Welcher der Punkte kann vielleicht weg?
Mental Load und Gleichberechtigung
„Wir sind doch alle längst gleichberechtigt!“, könnte man ironisch mit Alexandra Zykunov sagen, doch die Antwort darauf lautet leider: Leider nicht! Von struktureller Gleichberechtigung möchte ich gar nicht erst anfangen (da ist noch viel zu tun!), aber lasst uns gern die innerfamiliäre anschauen: Möglicherweise holt dein Partner stets brav euer Kind von Verabredungen ab, und du dachtest bisher, dass du einen echten Glückstreffer mit ihm gelandet hast. Aber – und das soll jetzt kein husband bashing sein – er leistet damit nur einen Bruchteil der nötigen Arbeit! Wenn du den ganzen Rest organisierst, dann liegt der Großteil der Arbeit und damit der Mental Load bei dir. Am Mental Load liegt es also auch häufig, dass wir uns in unseren (heteronormativen) Beziehungen, obwohl wir uns für fortschrittlich halten in Sachen gerechter Aufteilung, irgendwie ständig ausgelaugt fühlen. Das Konzept des Mental Loads, wie es oben beispielhaft aufgezeigt wurde, kannst du mit dem Eisbergmodell vergleichen: Das, was der Partner mit dem Abholen des Kindes erledigt, ist lediglich die sichtbare Spitze des Aufgabenberges. Der weitaus gewichtigere Teil läuft mental ab und befindet sich damit unter der Grenze des Sichtbaren.
Der Ausdruck Gap (= Lücke) beschreibt im Kontext der Geschlechtergerechtigkeit Bereiche, in denen Frauen (oder non-binäre oder trans-Menschen) schlechter dastehen als Männer. Man denke an den Gender Pay Gap, den Gender Care Gap oder den Gender Pension Gap. Hierzu passt doch ganz wunderbar die (zugegebenermaßen etwas sperrige, aber dennoch eindrückliche) Wortneuschöpfung Gender Mental Load Gap. Denn eine gleichberechtigte Partnerschaft führt man erst dann, wenn der Mental Load ebenfalls fair aufgeteilt ist. Oder warst du es vielleicht, die den Partner daran erinnert hat, das Kind abzuholen?
Was könnt ihr tun?
ALLE anfallenden Aufgaben fair aufteilen und sich auch gern mal abwechseln.
Schritt 1: Alle Aufgaben, die einem im Alltag begegnen, zusammentragen und schriftlich festhalten (z.B. in Excel).
Schritt 2: Redet über die Aufgaben, deren Umsetzung und eure Mindeststandards.
- Was (welche Teilschritte) beinhaltet die Aufgabe?
- Wie oft muss die Aufgabe gemacht werden?
- Wie lange dauert die Erledigung ungefähr?
- Wer denkt an die Aufgabe?
- Wer setzt die Aufgabe um?
- Wie sieht das gewünschte Ergebnis aus?
Schritt 3 (Bei Bedarf): Bewertet die Aufgaben bzw. deren Erledigung. Markiert z.B. in Rot, was euch besonders wichtig ist, in Orange, was ihr ausprobieren wollt und in Grün, was euch egal ist. Mir ist es beispielsweise besonders wichtig, dass möglichst keine Dinge herumliegen (= Rot), ob das Bett gemacht ist oder nicht, ist mir hingegen egal (= grün).
Mental Load und Visual Load
Ich nenne die Unordnung im eigenen Zuhause, angelehnt an den feststehenden Begriff des Mental Load, einfach mal schön knackig-englisch Visual Load. Visual Load sind all die herumliegenden, nicht wieder weggeräumten oder spontan herausgezogenen und dann liegengelassenen Dinge, die auf uns wirken können wie physische To Dos. In der Masse entsteht so eine komplette räumliche To Do-Liste, die uns zusätzlich stresst. Erledigen wir die Dinge nicht gleich (wie wohl in den meisten Fällen), sondern schieben das Aufräumen des Wohnzimmers oder der Küche erst noch ein bisschen hinaus, akkumulieren sich diese physischen To Dos plötzlich zu einem riesigen Haufen an Dingen, an die man noch denken muss. Und ups, da ist er wieder, der Mental Load! Hierin liegen gleich zwei Probleme: Wir haben einerseits die sichtbare Belastung (= Gegenstände, die im Haus verteilt herumliegen) sowie die unsichtbare, mentale Belastung (= Notiz im Kopf, die Gegenstände später einmal an ihren Platz zurückzuräumen). Wir sehen: Visual Load und Mental Load sind miteinander verknüpft.
Dafür gibt es tatsächlich auch ein Wort aus der Psychologie, welches ich kürzlich lernte: Affordanz. In Musterbruch. Überraschende Lösungen für wirkliche Gleichberechtigung schreibt Autorin Patricia Cammarata: „Vielen Gegenständen wohnt eine Affordanz inne – eine Handlungsanregung. Sie sind nicht einfach Gegenstände, die rumliegen, je nach Kontext fordern sie zu bestimmten Handlungen auf.“ Die Socke auf dem Badezimmerfußboden, die leere Kaffeetasse auf dem Schreibtisch, die Stifte neben der Federmappe: Die Gegenstände senden, solange sie nicht an ihrem eigentlichen Platz liegen, einen Appell aus. Weiter führt Cammarata aus, dass es zwischen den Geschlechtern tatsächlich ein Gefälle gibt, was die Wahrnehmung von Affordanz angeht. Es ist nämlich so, wer hätte es gedacht, dass Frauen eher Affordanz wahrnehmen als Männer. Das erklärt zumindest, warum manches für Männer unsichtbar bleibt (und sie zum zwanzigsten Mal einfach um die Socke auf dem Badezimmerfußboden herumlaufen).
„Wenn die eigene Wohnung und jedes Zimmer Arbeitsbereiche sind und überall Dinge liegen und stehen, die Aufgaben bereithalten, ist es schwer abzuschalten. Hinzukommt, dass Frauen oder besser gesagt Mütter sich oft schlecht abgrenzen können.“ – Patricia Cammarata in Musterbruch
Was kannst du tun?
Schritt 1: Deinen Besitz durchgehen und alles eliminieren, was dich nicht glücklich macht (z.B. mithilfe der KonMari®-Methode.)
Schritt 2: Die anfallenden Aufgaben (ja, auch das Wegräumen von Socken, Kaffeetassen – also Visual Load!) innerhalb der Familie/Partnerschaft fair aufteilen. Dazu gehört es, mit dem Partner/der Partnerin und anderen Familienmitgliedern über Aufgaben und Erwartungen zu sprechen.
Schritt 3: Dinge (etwas) länger liegen lassen. Denn wie wir gelernt haben, nehmen Männer die Handlungsaufforderung (= Affordanz) nicht so wahr wie wir. Räumen wir also immer alles gleich weg, haben sie nie die Chance, selbst darauf zu kommen. Lassen wir ihnen ein bisschen Zeit und weisen sie vielleicht liebevoll darauf hin, dass im Badezimmer schon wieder so viele Socken herumliegen, könnten sie doch noch zu gleichberechtigten Familienmitgliedern werden!
Visual Load und Mental Load
Visual und Mental Load sind noch auf eine weitere Art verknüpft, und zwar durch Rumination. Nina Kunz erklärt in ihrem Buch Ich denk, ich denk zu viel, dass man es in der Psychologie Rumination (engl. für Wiederkäuen) nennt, wenn man abschweift, grübelt, permanent nach eigenen Fehlern sucht, die Gedanken immer wieder auf Vergangenes richtet oder solange auf Sorgen herumkaut, bis man fast keine Luft mehr kriegt. Rumination ist also das ständige Wiederkäuen von Gedanken. Man könnte auch Gedankenkarussell dazu sagen.
Parallel hierzu möchte ich Rumination auf den Bereich der Ordnung anwenden, nämlich als das ständige „Herumwälzen“ von Dingen, ohne dass sich etwas ändert (außer vielleicht der momentane Aufenthaltsort der Dinge). Wenn bei uns Zuhause immer wieder Dinge herumliegen, wir sie aber immer nur unüberlegt von A nach B verfrachten, ohne einmal die Ursache anzuschauen, betreiben wir Rumination. Unsere vollgestopften Kramschubladen zeugen von Rumination. Der Küchenschrank, in dem sich alles befindet außer praktischen Küchenutensilien, die gebraucht werden: Rumination. Wenn wir das Kleid vorläufig in einen Flohmarktkarton legen, nach einem halben Jahr doch wieder in unseren Schrank integrieren und nach weiteren sechs Monaten immer noch nicht angehabt haben, dann ist das Rumination. Rumination ist für mich gleichbedeutend mit „Viel Lärm um nichts“. Ich mache beim schnellen Hin- und Herräumen ein wildes Getose, das aber niemals zu zufriedenstellender Ordnung führt. Die Lösung: Wir müssen einmal unseren Besitz durchgehen und uns bewusstmachen, was wir davon noch in unserem Leben haben wollen. Und wir müssen jedem Ding einen fixen Platz zuordnen. Wenn wir weniger besitzen und bei dem, was wir haben, wissen, wo es hingehört, können wir die einzelnen Dinge sofort wegräumen. Eine physische To Do-Liste entsteht so gar nicht erst und wir vermeiden Mental Load.
Was kannst du tun?
Wenn du bemerkst, dass sich deine Gedanken im Kreis drehen (du ein Teil immer nur von A nach B und wieder zurück nach A legst, weil du dich nicht entscheiden kannst), frag dich:
- Bin ich einer Antwort nähergekommen?
- Habe ich etwas verstanden, das zuvor unklar war?
- Geht es mir besser?
Wenn nicht? -> Leave it!
Zuguterletzt
Egal ob unsichtbar oder leicht zu erkennen: Visual Load und Mental Load sind real und sorgen für eine reale Überforderung im Alltag. Umso wichtiger ist es, sich die Aufgaben gerecht aufzuteilen. Das schafft man, indem man die Aufgaben überhaupt erstmal sichtbar macht und sich im Anschluss dazu austauscht. Manchmal hilft es auch, sich zu fragen, warum man etwas eigentlich macht, und zu überlegen, wo man seine Ansprüche herunterschrauben kann.
Oskar Holzberg, der bekannte Paartherapeut, honoriert in Liebe braucht Liebe den immensen Aufwand, den es bedeutet, täglich Ordnung herzustellen und zu halten. Und damit möchte ich den heutigen Blogpost gern beenden in der Hoffnung, dass ich dich zum Nachdenken anregen konnte.
„Und der Fortschritt macht es nicht leichter. Tatsächlich wuchs durch die Technik die Arbeitsbelastung. Die Wohnung wurde zum Waschsalon, zur Bügelstube und schließlich zum Kommunikations- und Unterhaltungszentrum. Mit den elektrischen Helferlein stiegen die Ansprüche. Wäsche wir häufiger gewechselt, die Wohnung soll schöner sein, immer mehr Güter müssen angeschafft, verwaltet, gepflegt und erhalten werden. Selbst wenn beide ihr Bestes geben, ist es nie genug. Wir haben so viele und so hohe persönliche Ansprüche, leben mit so vielen Angeboten, Informationen und Vergleichsmöglichkeiten. […] Die Lösung kann nur sein, unsere Ansprüche zu reduzieren, gemeinsam überflüssigen Stress aufzuspüren und abzubauen. Müssen wir wirklich jeden Abend warm essen? Jeden Morgen die Betten machen, die Wohnung ständig aufräumen, die Legosteine sortieren und jeden Sonntag einen Ausflug machen?“ – Oskar Holzberg in Liebe braucht Liebe